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Amazons Chef-Marionetten: Zustell-Unternehmer packen aus

Druck, Existenzängste und Knebelverträge prägen den Alltag vieler Zustell-Unternehmer von Amazon. Sie fühlen sich oft wie Marionetten des Konzerns. Wir decken auf, warum der Traum vom eigenen Unternehmen im System Amazon zum Albtraum werden kann.

Chefs von Zustellfirmen, ihre Fahrer und deren Transporter: Alle werden von Amazon wie Marionetten gelenkt. In dieser Investigativ-Recherche machen wir transparent, wie es dem Weltkonzern in Deutschland gelingt, seine Zustellung ohne einen einzigen eigenen Paketboten zu organisieren. Nicht nur die Zusteller, sondern auch die Chefs vieler kleiner Zustell-Unternehmen leiden unter dem druckvollen System Amazon.

Chefs von Zustellfirmen, ihre Fahrer und deren Transporter: Alle werden von Amazon wie Marionetten gelenkt. In dieser Investigativ-Recherche machen wir transparent, wie es dem Weltkonzern in Deutschland gelingt, seine Zustellung ohne einen einzigen eigenen Paketboten zu organisieren. Nicht nur die Zusteller, sondern auch die Chefs vieler kleiner Zustell-Unternehmen leiden unter dem druckvollen System Amazon. Foto: Gausmann

Inhalt

1. Das Thema: Wer sind die Opfer des Systems?

2. Die Subunternehmer: Was erhoffen sie sich?

3. Das Partner-Programm: Warum erscheint es so verlockend?

4. Das Kontroll-System: Wie übt Amazon Druck aus?

5. Die Kündigungen: Wie geht es zu Ende?

6. Das Gesetz: Ist das legal?

7. Die Politik: Was muss sich ändern?

1. Das Thema: Wer sind die Opfer des Systems?

Thomas Huber* steht unter Anspannung. Ungeduldig parkt er seinen Wagen in der Tiefgarage und eilt mit zügigen Schritten Richtung Ausgang. Eigentlich fehlt ihm die Zeit für eine Mittagspause. Oft verzichtet er ganz darauf. Aber heute hat er sich zu einem vertraulichen Interview verabredet, also muss der Alltag warten.

*Seinen Namen haben wir zu seinem Schutz geändert.

Offiziell ist der mittelalte Mann aus Norddeutschland ein selbständiger Unternehmer. Er beschäftigt rund 20 Paketzusteller und arbeitet von Montag bis Samstag durchschnittlich zwölf Stunden am Tag. Auch sonntags kommt er nicht zur Ruhe. Er versucht, genügend Gewinn zu machen, um seine Familie zu ernähren. Doch in Wirklichkeit hat er nur wenig Einfluss auf den Erfolg seines Unternehmens, denn er ist Subunternehmer von Amazon - dem größten Onlinehändler der Welt. Und damit hat er sich in ein perfides System der Abhängigkeit begeben.

Als sogenannter Delivery Service Partner (DSP) - also ein Liefer-Service-Partner - ist er dafür verantwortlich, dass die Amazon-Pakete vom Verteilzentrum seiner Region zu den Kunden nach Hause gebracht werden. Insgesamt gibt es über 60 Verteilzentren in Deutschland. Amazon hat selbst keinen einzigen Paketboten eingestellt, sondern die Zustellung bewusst auf externe Unternehmen verlagert.

Immer wieder Kritik an den Arbeitsbedingungen der Fahrer

In den vergangenen Jahren wurde immer wieder Kritik an den Arbeitsbedingungen der Zusteller laut. Auch Nordsee-Zeitung.de hat über die Erfahrungen von Paketboten aus Bremerhaven berichtet. Sie alle erzählen von sehr viel Druck, unbezahlten Überstunden und Überwachung durch Apps. Dabei kritisieren viele Fahrer ihre direkten Chefs - die Subunternehmer.

Selbst Amazon scheint schockiert zu sein, wenn wieder einmal die dramatischen Arbeitsbedingungen in einem der Subunternehmen öffentlich werden. In der Stellungnahme des Unternehmens heißt es:

„Bei wesentlichen Vertragsverletzungen oder Hinweisen auf illegale Handlungen beenden wir die Zusammenarbeit mit diesem Partner und scheuen – wenn nötig – auch nicht davor zurück, Strafanzeige zu erstatten.“

Doch Amazon ist nicht so unschuldig und unwissend, wie das Unternehmen selbst behauptet.

Was heimlich im Hintergrund passiert

Recherchen der NORDSEE-ZEITUNG, von Correctiv und dem Saarländischen Rundfunk (SR) zeigen nun erstmals, dass Amazon die Ausbeutung der Paketboten begünstigt und die Subunternehmer in ihrer unternehmerischen Freiheit massiv einschränkt. Wir haben interne Dokumente und Verträge eingesehen, mit Subunternehmern und mit Juristen gesprochen.

In diesem Text decken wir auf, was still und heimlich im Hintergrund passiert, wenn Kunden bei Amazon auf „Jetzt bestellen“ klicken. Nicht nur die Paketboten, sondern auch deren Chefs leiden unter dem auf Effizienz getrimmten Weltkonzern. Wir erklären, wie es Amazon gelingt, Menschen wie Thomas Huber in dieses System hineinzuziehen. Es geht um die Hoffnung auf ein Stückchen vom großen Kapitalismus-Kuchen, um Existenzängste und um Knebelverträge, die sich mindestens an den Grenzen der Legalität bewegen. Experten sehen sogar Indizien für Scheinwerkverträge und unerlaubte Leiharbeit. Und es geht um die Frage, welche Art von Online-Shopping wir als Gesellschaft akzeptieren.

2. Die Subunternehmer: Was erhoffen sie sich?

Alles beginnt mit dem Traum vom eigenen Unternehmen. „Ich wollte immer mein eigener Chef sein”, sagt Thomas Huber. Er sitzt in der hintersten Nische eines Restaurants irgendwo im Norden und trinkt einen Schluck Apfelschorle. Auch während seiner Mittagspause klingelt sein Handy immer wieder. Dann führt er kurze, effiziente Gespräche auf englisch und beendet das Telefonat so schnell wie möglich. „Ich war schon mal Geschäftsführer in einem Unternehmen. Dann wollte ich was Eigenes gründen und bin auf das DSP-Modell von Amazon aufmerksam geworden”, erzählt er zwischen zwei Anrufen.

So wie Thomas Huber geht es vielen seiner Kollegen und ehemaligen Kollegen. Im Rahmen unserer Recherche haben wir mit mehreren Subunternehmern gesprochen. In diesem Text werden insgesamt drei Personen exemplarisch ihre Geschichte erzählen: Thomas Huber, Gustav Schneider und Lukas Nowak. Im echten Leben heißen sie anders. Um ihre Anonymität zu wahren, haben wir ihnen Pseudonyme gegeben.

Angst vor Amazons Reaktion

Sie alle befürchten, dass Amazon herausfindet, dass sie trotz der Verschwiegenheitserklärungen Informationen über das DSP-Programm an uns gegeben haben. Sie haben Angst, dass der Konzern sie deshalb vor Gericht zerrt. Trotzdem wollen sie sprechen - vor allem, weil sie sich von Amazon ungerecht behandelt und ausgenutzt fühlen. „Diese Erfahrung - was man da mit mir veranstaltet hat - empfinde ich als persönliche Demütigung”, sagt Gustav Schneider.

Man hört seiner gewählten Ausdrucksweise an, dass er ein gebildeter Mann ist. Und das weiß er auch. Vielleicht nagt das unrühmliche Ende seiner Amazon-Vergangenheit deshalb besonders an ihm. Ebenso wie Lukas Nowak arbeitet er inzwischen nicht mehr für den Onlinehändler. Es sind ganz unterschiedliche Menschen, die als Subunternehmer für Amazon arbeiten. „Es gibt viele DSP-Unternehmer, die vorher schon selbständig waren. Es gibt auch genauso viele, die gar keine Erfahrung haben. Und es gibt einige, die auch viel Mist bauen”, sagt Nowak. Natürlich sind nicht alle Subunternehmer ausschließlich Opfer, ebenso wenig wie alle Fahrer. Sie können Täter sein und manche von ihnen sind es auch. Aber Fakt ist, dass sie - Fahrer sowie Chefs - unter dem Einfluss von Amazon handeln. Und sie haben noch etwas gemeinsam: Sie träumen alle von der Unabhängigkeit eines eigenen Unternehmens - einige auch vom großen Geld. Und am Anfang scheint es so, als würde Amazon diesen Traum erfüllen.

3. Das DSP-Programm: Warum erscheint es so verlockend?

In ganz Deutschland wirbt der Konzern Menschen an, die im Auftrag von Amazon ein Subunternehmen gründen sollen. „Wenn Sie je darüber nachgedacht haben, ein eigenes Unternehmen zu gründen, kann Ihnen das Delivery Service Partner-Program dabei helfen, sich diesen Traum zu erfüllen”, sagt eine freundliche Frauenstimme in einem Werbevideo, während heitere Musik im Hintergrund dudelt.

Dann erklärt die Stimme, welche Vorteile Amazon bietet - und die klingen verlockend: Die neuen Zustellunternehmer bekommen von Amazon Schulungen, Fahrzeuge, Technologie und Ausrüstung. Sie müssen lediglich zwischen 15.000 und 25.000 Euro Startkapital nachweisen, dann gründen sie eine GmbH oder eine UG*, stellen Kurierfahrer ein und können direkt loslegen.

*Eine UG ist eine haftungsbeschränkte Unternehmergesellschaft. Oft wird sie auch die kleine Schwester der GmbH genannt.

„Der Einstieg lief wirklich gut. Da gab es auch einen Notar, der mir dabei unter die Arme gegriffen hat. Amazon wollte uns (die DSP-Anwärter) unbedingt haben. Ich habe mein Unternehmen mit 1000 Euro gegründet und alles andere wurde von Amazon übernommen”, erinnert sich Gustav Schneider an seine anfängliche Euphorie.‍

Der Konzern verspricht den DSP-Gründern ein jährliches Gewinnpotenzial zwischen 60.000 und 140.000 Euro, wenn sie sich an die Vorgaben von Amazon halten. Der Gewinn wird über die Zahl der ausgelieferten Pakete generiert. Für ein Paket bekommt der Subunternehmer 5 Cent. Wenn seine Fahrer in Transportern mit dem Amazon-Schriftzug fahren, kommen weitere 5 Cent hinzu. Wer ohne die gebrandeten Fahrzeuge fährt, halbiert demnach den Gewinn.

Um die laufenden Kosten zu decken, gibt es die sogenannte Rate. Das sind Pauschalen, die Amazon für die verschiedenen Posten zahlt. Die Fixkosten werden durch den monatlichen Basis-Tarif abgedeckt. Das bedeutet, die Unternehmer bekommen einmal im Monat für jedes Auto einen festen Betrag. Für die variablen Kosten gibt es einen Stundensatz. Dafür trägt jeder Unternehmer die geplanten Arbeitsstunden für eine Woche ein und bekommt dafür einen Betrag. Überstunden werden nicht bezahlt. Hinzu kommen die Erstattung der Treibstoffkosten und eventuelle Leistungsprämien.

Doch all das macht Amazon nicht aus uneigennütziger Nächstenliebe. Das System hat enorme Vorteile für den Online-Riesen.

Zunächst gab es nur den Amazon-Versand mit Unternehmen wie der Deutschen Post und DHL. Mit der Zeit wollte sich Amazon jedoch unabhängiger machen und die letzte Meile - also den Transport vom Verteilzentrum zur Haustür - selbst organisieren. Dafür hat Amazon das Programm DSP 1.0 etabliert. Dabei werden kleine bis mittelständische, lokale Logistikunternehmen in die Amazon-Logistik eingegliedert. Sie arbeiten in den Verteilzentren und nutzen das Arbeitsmaterial von Amazon. Im Jahr 2020 ist der Konzern noch einen Schritt weiter gegangen und hat Menschen angeworben, die extra für Amazon ein kleines Logistikunternehmen gründen wollen. Das ist DSP 2.0.

Ein System mit wenig Verantwortung und viel Kontrolle für Amazon

Durch die externen Unternehmen innerhalb des eigenen Systems kann Amazon die Verantwortung für die Auslieferung von sich schieben, ohne die Kontrolle darüber zu verlieren. Amazon ist für diese inhabergeführten Unternehmen erst einmal nicht verantwortlich. Es ist ein flexibles und kostengünstiges Modell. Wenn ein Subunternehmen ausfällt, liefern die anderen weiter. Betriebsräte werden in diesen kleinen Unternehmen so gut wie nie gegründet.

Aber das alleine ist nicht verwerflich. Es ist legitim, dass Amazon ein preiswertes und effizientes System für die Auslieferung der Pakete entwickelt. Und immerhin profitieren auch die Subunternehmer davon - oder?

Nicht wirklich: Die DSP-2.0-Unternehmer berichten einvernehmlich, dass sie kaum unternehmerische Freiheit und kaum Chancen haben, genügend Gewinn zu machen. Für viele endet der Traum in der Insolvenz. „Amazon bindet kleine Unternehmer an sich - nicht mehr solche Giganten, sondern so Sonderlinge, wie ich einer bin - und die werden so richtig schön angekettet”, sagt Gustav Schneider mit bitterem Unterton.

Amazon weist diese Vorwürfe zurück: „Die Lieferpartner können ihre Geschäfte nach eigenem Ermessen führen. Sie können u.a. frei entscheiden, welche und wie viele Fahrer:innen sie beschäftigen, ob sie neben Amazon noch andere Kund:innen haben und wie viele Routen sie für Amazon übernehmen.”

„Für mich kann ich sagen: Ich bin nicht selbständig, auf keinen Fall.“

Ein Subunternehmer

4. Das Kontrollsystem: Wie übt Amazon Druck aus?

Wenn man mit DSP-Unternehmern spricht, dann fallen früher oder später immer die folgenden oder ähnliche Aussagen:

„Ich bin nicht selbständig, auf keinen Fall!“
„Amazon weiß und kontrolliert alles. Die wissen, wie viele Leute ich habe - die wissen alles über meine Mitarbeiter.“
„Es ist ein Ausbeutungssystem auf allen Ebenen.“

Aber wie genau kettet Amazon seine Delivery Service Partner an sich? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort, denn Amazon arbeitet mit einer gekonnten Mischung aus Druck, Kontrolle und direkten sowie indirekten Vorgaben. Das belegen auch die internen Dokumente, die der Redaktion vorliegen. In manchen Punkten haben die Subunternehmer keine Wahl - in anderen werden sie subtil in die gewünschte Richtung gedrängt.

Er weiß immer, wo seine Fahrer gerade sind

Da sind zum Beispiel die Apps, die als Arbeitsmaterial von Amazon vorgegeben werden. Thomas Huber ist bereit, uns Einblick in diese Apps zu geben. Er schiebt sich die letzte Gabel von seinem Mittagessen in den Mund - Labskaus - dann öffnet er den Laptop und klickt sich durch den Dschungel seiner Unterlagen. Auf dem Bildschirm erscheinen Tabellen, Gehaltslisten und vor allem Routen. „Da ist der Fahrer gerade unterwegs“, sagt er und deutet auf einen kleinen Punkt.

Die Amazon-Flex-App auf dem Diensthandy der Kurierfahrer bestimmt ihren gesamten Arbeitstag. Sie gibt vor, wie viele Pakete die Fahrer wohin liefern sollen. Regelmäßig sind es bis zu 300 Pakete am Tag - manchmal sogar mehr. Zu jeder Zeit weiß der Subunternehmer, wo sich seine Fahrer befinden. Die Mentor-App erfasst das Fahrverhalten der Paketboten - wann sie beschleunigen oder abbremsen und ob ihr Handy in der Halterung steckt.

Dies ist ein Auszug aus dem Vertrag zwischen Amazon und den DSP Unternehmen.

Bisher hat Amazon nie zugegeben, dass der Konzern direkten Zugriff auf diese Daten hat. Doch der Vertrag, der zwischen den DSP-Unternehmern und Amazon abgeschlossen wird, macht deutlich, dass Amazon alle Informationen aus diesen Apps besitzt - auch die personenbezogenen Daten. In dem Vertrag heißt es: „Sofern nicht bereits in Amazons Besitz, stellen Sie uns auf Anfrage alle erfassten Daten zur Verfügung.“

Darüber hinaus werden die Daten aus diesen beiden Apps in einem Bewertungssystem aller Subunternehmer einer Region zusammengefasst. In einer Tabelle steht für alle ersichtlich, ob das jeweilige Subunternehmen die Pakete beim ersten Versuch zustellen konnte, ob der vom Kunden gewünschte Ablageort genutzt wurde, ob das Fahrverhalten einwandfrei war und vieles mehr. Wer die Zielwerte von Amazon erfüllt, steht oben im Ranking, wer nur eine schlechte Punktzahl vorweisen kann, steht unten.

Der Beste bekommt einen Pokal

„Wenn man auf Platz eins ist, gibt es irgendeinen billigen Pokal und irgendwelche Preise. Wenn der Score oft schlecht ist, muss man sich als Subunternehmer Amazon gegenüber rechtfertigen. Und natürlich könnte es sein, dass Amazon sich von dem DSP-Unternehmen trennt“, erklärt Lukas Nowak später. Er lebt inzwischen im Ausland und versucht, das Kapitel Amazon hinter sich zu lassen. So ganz gelingt es ihm aber noch nicht.

Alle drei Subunternehmer betonen, dass ihr Score in der Regel gut war. Auch wenn sie das System kritisieren und auch wenn zwei von ihnen nicht mehr Teil der DSP-Welt sind, hat sich der Leistungsgedanke in ihren Köpfen festgesetzt. Manchmal schwingt zwischen der Kritik auch ein Hauch Bewunderung für die Effizienz des Systems mit. „Aus Amazons Sicht würde ich das wahrscheinlich auch alles so machen“, sagt Thomas Huber mit einem schiefen Lächeln.

Nichtsdestotrotz leiden sie unter der Kontrolle und dem Druck, der durch die Rankings und die ständige Berichtspflicht gegenüber Amazon aufgebaut wird.

„Amazon hat alle Unterlagen von der Unternehmensgründung und den Fahrern. Es gibt jeden Tag mindestens zwei Gespräche mit Amazon - diese Daily Calls. Und wir müssen regelmäßig alle neuen Unterlagen einreichen“, sagt Lukas Nowak. Das bestätigt auch Thomas Huber und ergänzt: „Wir müssen zu einer exakten Uhrzeit die Pakete aus dem Verteilzentrum holen. Wir müssen Quoten erfüllen. Wir müssen den Fahrern mehr als Mindestlohn zahlen. Wir sind selbst wie Mitarbeiter. Ich darf im Grunde nur entscheiden, wen ich einstelle und wen ich rausschmeiße. Und wenn man aufmüpfig ist, bekommt man weniger Touren.“

In den Verteilzentren gibt es eine klare Hierarchie: Die Amazon-Manager dort sind den Subunternehmern und den Fahrern gegenüber weisungsbefugt. Außerdem verteilt Amazon die Routen an die verschiedenen Subunternehmen. Und davon hängt ab, wie viel Gewinn sie machen.

Subunternehmer beklagen niedrige Gewinnmargen

Alle Subunternehmer kritisieren, dass die Gewinnmargen sehr gering sind oder sogar gegen Null tendieren. Schuld daran seien einerseits die knapp kalkulierte Rate, die Amazon den Subunternehmern für die Autos, die Versicherung und andere Posten zahlt. Andererseits gebe es schlicht keine verlässliche Einnahmequelle. „Das unternehmerische Risiko ist viel zu groß, weil man sich nicht frei entscheiden und keine Rücklagen bilden kann. Man ist in vielen Punkten abhängig“, sagt Lukas Nowak. „Am Ende steht die Insolvenz.“

Der Onlinehändler betont - im Vertrag sowie im Statement gegenüber der NORDSEE-ZEITUNG, Correctiv und dem SR -, dass es keine festen Zusagen über die Anzahl der Routen gibt, die jedes DSP-Unternehmen zugeteilt bekommt und dass sie jederzeit Aufträge von anderen Unternehmen annehmen dürfen. Doch die Realität sieht anders aus: Die meisten DSP-Unternehmer haben keine weiteren Auftraggeber.

„Theoretisch ist es möglich, andere Auftraggeber zu haben und sich von Amazon unabhängiger zu machen. Ich habe mal darüber nachgedacht. Es gibt zum Beispiel Expresslinien über Nacht. Aber das ist zumindest nicht mit einem Amazon-Fahrzeug möglich, weil die über Nacht auf dem Amazon-Gelände abgestellt werden müssen. Deshalb müsste man das mit eigenen Fahrzeugen machen. Und das ist vom Kapitalaufwand her kaum möglich. Insgesamt gibt es sehr, sehr wenige, die das machen“, sagt Gustav Schneider.

„Man kann kein erfolgreiches Amazon-Subunternehmen führen mit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen.“

Ein Subunternehmer

„Hire and fire“: Vor Weihnachten steigt der Leistungsdruck

Also vertrauen die Subunternehmer weitestgehend auf die Zusammenarbeit mit Amazon - immerhin haben sie ihr DSP-Unternehmen extra für den Online-Riesen gegründet. Und so kommt es, dass die Subunternehmer kaum Einfluss auf ihre Auftragslage haben. Es gibt Phasen, in denen sie viel zu wenige Routen bekommen, dann wieder Phasen, in denen der Arbeitsdruck immens wird - wie in der Vorweihnachtszeit. Und gerade in diesen Wochen steigt auch der Leistungsdruck auf die Fahrer.

Vor Weihnachten rät Amazon den DSP-Unternehmern, neue Fahrer einzustellen, um möglichst viele Pakete ausliefern zu können, berichten mehrere Subunternehmer. Doch im Januar habe Amazon dann verlangt, die neuen Mitarbeiter wieder zu entlassen. „Hire and fire“ nennt sich diese Personalpolitik. „Da wurde gesagt: Die sind ja eh noch innerhalb der Probezeit, die kannst du doch wieder loswerden“, erinnert sich Gustav Schneider. „Wenn man mir von Anfang an gesagt hätte, wir brauchen diese Leute nur saisonal, hätte ich damit leben können - dann ist das für alle fair. Aber mir wurde gesagt: Stell sie ein, wir messen dich daran, wie viele Leute du hast und damit kannst du wachsen.“

Amazon hat eine andere Sichtweise darauf: „In der Vorweihnachtszeit gibt es bei Amazon ein erhöhtes Paketaufkommen. In diesem Zusammenhang hat Amazon einen erhöhten Bedarf an zusätzlichen Routen, die von Lieferpartnern angeboten werden können. Ob die Lieferpartner dies tun und ob sie zu diesem Zweck zusätzliche Fahrer:innen einstellen, liegt allein in der unternehmerischen Freiheit der Lieferpartner.”

Schneider schämt sich inzwischen für diese und andere Vorgehensweisen: „Ich habe mich instrumentalisieren lassen. Die Subunternehmer bauen Druck auf die Fahrer auf mit Anrufen: ‘Mach mehr!’, ‘Mach schneller’ oder ‘Warum machst du jetzt ne Pause?’. Aber dieser Druck ist von Amazon initiiert und wird durchgereicht. Die Aufgabe des Unternehmers ist es, seine Leute zu prügeln. Man kann kein erfolgreiches Amazon-Subunternehmen führen mit menschenwürdigen Arbeitsbedingungen.“

5. Die Kündigungen: Wie geht es zu Ende?

Thomas Huber ist nach wie vor Lieferpartner von Amazon. Sein Unternehmen läuft. Er macht nicht das große Geld, sondern kämpft um jede kleine Rücklage - aber es läuft. Es hilft, dass seine Frau für ein kleines Gehalt im Büro arbeitet und er dafür keine Vollzeitkraft einstellen muss. Für Büroarbeit hat Amazon kein Budget vorgesehen, berichten die Subunternehmer. „Das Ganze ist als One-Man-Show angelegt. Aber eigentlich schafft man das nicht alleine“, sagt Huber.

Beinahe jeden Tag ist er in Alarmbereitschaft - welche Krise wird er als nächstes bewältigen müssen? Und beinahe jeden Tag fragt er sich, ob sich der ganze Aufwand, der Druck und die Existenzängste lohnen und wie er das Programm möglichst verlustfrei verlassen könnte.

Der Kündigungsanruf am Freitag

Gustav Schneider und Lukas Nowak mussten sich diese Fragen nie stellen, denn Amazon hat ihnen die Entscheidung abgenommen und ihnen gekündigt. Wenn sich der Onlinehändler für eine Kündigung des Vertragsverhältnisses entscheidet, dann verläuft das ebenso effizient und routiniert wie zuvor die Zusammenarbeit.

„Ich bekam an einem Freitag einen Anruf. Solche Kündigungsanrufe werden immer freitags getätigt. Der Regionalleiter und der Stationsleiter teilten mir mit, dass man mir kündigen werde. Gründe wurden mir nicht genannt, und es wurde gleich gesagt, dass es keine Abwendung dieser Kündigung geben wird“, erzählt Gustav Schneider. Die Erfahrungen von Lukas Nowak klingen sehr ähnlich: „Mir wurde gesagt, dass das nicht verhandelbar ist.“

Im Aufhebungsvertrag gibt Amazon den Subunternehmern vor, wie sie ihre Fahrer über das Ende der Zusammenarbeit informieren sollen.

Beide wurden vor eine Wahl gestellt: Entweder Sie nehmen eine Abfindungszahlung (sie lag im niedrigen fünfstelligen Bereich) und unterschreiben einen Aufhebungsvertrag, oder Sie arbeiten noch 30 Tage weiter und bekommen nichts. In dem Vertrag zwischen Subunternehmer und Amazon ist eine Kündigungsfrist von gerade mal 30 Tagen vorgesehen.

Beide haben sich für die Abfindung entschieden und beide haben nur einen Bruchteil des ursprünglichen Betrags erhalten. Der Grund: Für die Reparatur der zurückzugebenden Fahrzeuge hat die Firma Leaseplan ihnen hohe Rechnungen gestellt. Leaseplan ist das Unternehmen, über das die meisten DSP-Unternehmer die Amazon-Transporter leasen. „Ich konnte das nicht zahlen, deshalb hat Amazon meine Abfindung gekürzt“, erklärt Lukas Nowak.

Noch immer ist er über die Kündigung enttäuscht. Es ist eine persönliche Enttäuschung über falsche Versprechungen von Amazon und viel Vertrauen seinerseits: „Amazon hat während der Bewerbung immer gesagt, dass sie sich nie von uns trennen werden - höchstens, wenn wir etwas Illegales machen. Ich habe mich an alle Regeln von Amazon gehalten und es hat trotzdem nicht geklappt.“

Gustav Schneider ist weniger enttäuscht, sondern vielmehr wütend. „Ich vermute, dass ich ihnen zu unbequem wurde. Es hat mit Sicherheit nicht am Betriebsablauf und meiner Leistung gelegen“, ist er überzeugt. Immer wieder hat er im Laufe der Monate und Jahre versucht, mit den Amazon-Managern über Probleme ins Gespräch zu kommen - doch vergebens: „Das Beschwerdemanagement kann man sich so vorstellen: Man wirft einen Brief in den Briefkasten und darunter steht schon der Reißwolf. Sie fahren eine ganz gezielte Hinhaltetaktik. Es ist Augenwischerei und Beruhigung. Wir haben uns alle lieb, wir verstehen dich, wir diskutieren hier alles offen. Aber es ändert sich nie etwas, weil das System ganz starr ist.“

Amazon schreibt sich hingegen auf die Fahne, das DSP-Modell stets weiterzuentwickeln und betont: „Wir hören unseren Partnern und deren Mitarbeitenden immer zu, nehmen ihr Feedback auf und arbeiten jeden Tag daran, ein einladendes, sicheres und integratives Miteinander zu bieten.”

6. Das Gesetz: Ist das legal?

Ein starres und vor allem einseitiges System sehen auch Juristen beim Blick in die Dokumente. Der NORDSEE-ZEITUNG, Correctiv und dem Saarländischen Rundfunk liegen Verträge zwischen DSP-Unternehmern und Amazon, Aufhebungsverträge, Programmrichtlinien und zahlreiche E-Mails vor.

„Die Dokumente zeigen eine starke und anscheinend von Amazon bewusst initiierte Abhängigkeit der Subunternehmer. Das sind sehr geschickte und kompliziert formulierte Knebelverträge“, sagt Frank Ewald, Fachanwalt für Arbeitsrecht bei der Kanzlei Maly und Partner in Bremen. Die Kanzlei vertritt auch ein gekündigtes Betriebsrats-Mitglied am Amazon-Standort Achim.

Allgemein würden die Dokumente erstaunlich offen darlegen, was Amazon von den Subunternehmern erwartet: „Sie sollen als eigenständige Unternehmer die Verantwortung übernehmen. Dass sie nicht wirklich unabhängig sind, wird in diesen Verträgen und im realen Arbeitsalltag deutlich.“

Dies ist ein Auszug aus dem Vertrag zwischen Amazon und den DSP Unternehmen.

Dies ist ein Auszug aus dem Vertrag zwischen Amazon und den DSP Unternehmen.

Er fährt fort: „Ein Unternehmen, das annähernd auf Augenhöhe ist, würde sich viele Vorgaben aus diesem Vertrag gar nicht diktieren lassen. Der Betriebsrat der Deutschen Post würde beispielsweise das App-Tracking sicher nicht unkommentiert durchgehen lassen. Da würde man mindestens Regeln aufstellen - z.B., dass diese Apps nicht zur Leistungskontrolle der Fahrer eingesetzt werden dürfen.“

Das alles ist moralisch fragwürdig, aber ist es juristisch relevant?

Amazon selbst betont: „In vielen Branchen ist es üblich, mit Partnern zusammenzuarbeiten und diese Zusammenarbeit über entsprechende Verträge zu regeln.“ Da stimmt Rechtsanwalt Frank Ewald grundsätzlich zu: „In der freien Marktwirtschaft gibt es Vertragsfreiheit. Grundsätzlich ist es legitim, dass ein Vertragspartner eine überlegene Position hat und diese auch für sich nutzt. Aber es gibt Grenzen: Wenn das überlegene Unternehmen seine Position sittenwidrig ausnutzt oder sittenwidrige Motive erkennbar sind.“ Ob das im Falle des DSP-Modells gegeben ist, muss vor Gericht entschieden werden.

Juristen sehen Indizien für unerlaubte Leiharbeit

Darüber hinaus könnten einige Klauseln mit Blick auf den Datenschutz unzulässig sein. Und bei dem ganzen DSP-Modell könnte es sich juristisch um eine nicht erlaubte Arbeitnehmerüberlassung handeln. „Die läge vor, wenn die Fahrer der DSP-Unternehmen tatsächlich wie Amazon-Mitarbeiter behandelt werden und direkt von Amazon Anweisungen erhalten“, erklärt er. „Dafür gibt es einige Indizien. Grenzwertig könnte zum Beispiel die genaue Vorgabe der Routen sein.“

Das alles gilt, wenn es sich um echte Verträge zwischen zwei Unternehmern auf Augenhöhe handelt. Doch ist das überhaupt der Fall? Dr. Manfred Walser, Professor für Arbeitsrecht und Wirtschaftsprivatrecht an der Hochschule Mainz, bezweifelt es. Die Frage ist: Handelt es sich um einen individuell ausgehandelten Vertrag oder um Allgemeine Geschäftsbedingungen?

Der Unterschied besteht darin, dass Allgemeine Geschäftsbedingungen mit mehreren - mindestens drei - Vertragspartnern abgeschlossen werden, ohne dass die einzelnen Klauseln ernsthaft zur Debatte stehen, erklärt Walser. Alle Subunternehmer betonen, dass dies nie der Fall gewesen sei. „Verhandeln mit Amazon?“, ruft Thomas Huber mit einem harten Lachen aus. „Das läuft da nach dem Prinzip ‘Friss oder stirb’.“

Dies ist ein Auszug aus dem Vertrag zwischen Amazon und den DSP Unternehmen.

Doch genau davon könnte abhängen, ob einzelne Klauseln rechtsgültig sind: „Das Besondere an den allgemeinen Geschäftsbedingungen ist, dass die durch Gerichte dahingehend überprüft werden, ob die einzelnen Klauseln fair sind, ob die Interessen von beiden Vertragsparteien ausreichend berücksichtigt werden. Und wenn das nicht der Fall ist, dann ist eine solche Klausel unwirksam“, führt Walser aus.

Amazon weist diese Vorwürfe zurück und betont: Die Lieferpartner könnten „ihre Geschäfte nach eigenem Ermessen führen“. Für die Subunternehmer wäre es hingegen eine Befriedigung, wenn ein Gericht tatsächlich entscheiden würde, dass das DSP-Modell in dieser Form nicht rechtsgültig ist - dass ihnen Unrecht geschehen ist.

7. Die Politik: Was muss sich ändern?

Vieles von dem, was in der Paketbranche schiefläuft, ist längst kein Geheimnis mehr. Doch das Ausmaß der systematischen Ausbeutung auf unterschiedlichen Ebenen überschreitet immer wieder das bisher Bekannte. Trotzdem ändert sich wenig.

Der Bundesrat forderte im Mai 2023 die Bundesregierung auf, das Paketboten-Schutz-Gesetz zu ändern und Werkverträge in der Branche zu verbieten. Ursprünglich hat die Bremer Bürgerschaft den sogenannten Entschließungsantrag in den Bundesrat gebracht. Demnach dürften Paketboten künftig nicht mehr bei Subunternehmen angestellt sein, sondern müssten direkt beim eigentlichen Auftraggeber - beispielsweise Amazon - arbeiten. Ziel ist es, die Arbeitsbedingungen von Paketdienstleistern zu verbessern. Diese Regelung gilt bereits in der Fleischindustrie.

Doch bisher gibt es keine Verbindlichkeit für die Bundesregierung - im Grunde ist es nicht viel mehr als ein Vorschlag. Und solange es keine eindeutige politische Entscheidung gibt, werden weiterhin Menschen mit ein paar Tausend Euro ein Zustellunternehmen gründen, mit Vorliebe Migranten als Fahrer anstellen, sie mit unseren Bestellungen durch die Städte und Landkreise hetzen, um irgendwann zu realisieren: Sie sind mehr Opfer als Unternehmer - und in Wahrheit nur austauschbare Marionetten des Handelsgiganten Amazon.

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Sie waren oder sind selbst direkt bei Amazon oder einem für den Konzern tätigen Subunternehmen angestellt und wollen über Ihre Erfahrungen sprechen? Dann melden Sie sich bei luise.langen@nordsee-zeitung.de. Ihre Informationen werden immer vertraulich behandelt.

Die Recherche-Kooperation

Dieser Text ist im Rahmen einer Recherche-Kooperation zwischen der NORDSEE-ZEITUNG, Correctiv und dem Saarländischen Rundfunk entstanden. Correctiv ist ein gemeinnütziges Recherchenetzwerk in Deutschland. Die Redaktion finanziert ihre investigativen Recherchen durch Spenden. Der Saarländische Rundfunk ist eine Anstalt des öffentlichen Rechts und die Landesrundfunkanstalt des Saarlands mit Sitz auf dem Halberg in Saarbrücken. Der SR ist Mitglied der ARD.

Eine Investigativ-Recherche

Text

Luise Langen (NORDSEE-ZEITUNG)

Recherche

Luise Langen (NORDSEE-ZEITUNG), Miriam Lenz (Correctiv), Caroline Uhl und Niklas Resch (Saarländischer Rundfunk)

Grafik und Umsetzung

Charlene Schnibbe, Lena Gausmann und Gero Balsen

Videos

Philipp Overschmidt

Luise Maria Langen

Reporterin

Luise Langen arbeitet seit 2020 als Reporterin für die NORDSEE-ZEITUNG. Von guten Geschichten war die gebürtige Berlinerin aber schon immer begeistert – auch während ihres Germanistik-Studiums in Österreich und der Zeit als Regieassistentin am Stadttheater Bremerhaven.

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